live.hackr

die romantische komödie

Wave Runner

doch noch ein kleiner nachtrag zu R.I.P. Wave … es war doch ganz lustig die kollektive sinnstiftung zu verfolgen, die die frage ‘warum musste es sterben?’ beantworten und also symbolisch verdaulich machen wollte. wirklich überzeugend fand ich dabei keine, deshalb noch mein senf:

der fast immer genannte grund: people didn’t get it. war sicher ein faktor, aber kein ausschlaggebender. natürlich gibt es immer leute, die irgendwas einfach nicht getten, man denke nur an twitter, das ding bei wave aber ist eher, dass die leute schon verstanden haben, was bei wave zu getten ist, dass das aber für sie einfach nicht nützlich war. wave war ein tool zur zusammenarbeit in echtzeit, und das braucht man halt nur dann, wenn man gerade mit anderen an irgendwas zusammenarbeiten muss und besonders eine echtzeit-komponente dabei wirklich unheimlich nützlich wäre (was schätzomativ auf 0,03% aller aktivitäten im web zutrifft; ein google wave for farmville würde diesen prozentsatz wohl deutlich erhöhen).

zum grundsätzlichen verstehen von wave braucht man nicht drei tage, man braucht 30 – 60 minuten, aber wenn man es grundsätzlich nicht braucht, dann wird wave durch das verständnis auch nicht verstandener. (viele scheinen das verstehen, dass es für sie nichts zu verstehen gibt, als nichtverstehen zu interpretieren).

aber das war ja auch nicht das eigentliche problem von google wave. 0,03% aller aktivitäten wären auch noch ein riesiger markt, wenn auch nicht für techblogger und die social media crowd, die user und follower zählen und möglichen einfluss abschätzen wollen. das problem von wave war, dass es auch für die, die es verstanden haben UND die dafür einen bedarf an so etwas hätten, einfach keine gute lösung war. nicht weil es nichts konnte, sondern weil es zuviel zugleich wollte und nichts wirklich gut löste.

(wer die folge ‘oh brother, where art thou?’ der simpsons kennt (die, bei der homer seinen bruder, den autofabrikanten, kennenlernt): wave war das äquivalent zu ‘the homer’ – dem von homer in freier featuritis entworfenen auto, das den bruder dann in den ruin trieb)

etwas abstrahiert war der fehler von wave, dass es zu viele grenzen vermischte. (ich bin da derzeit durch meine aufräumaktion vl. ein bisschen übersensibel, aber klare grenzen sind in einigen bereichen extrem nützlich). unter anderen:

  • funktionelle grenzen

wave war gleichzeitig chat, kollaboratives schreiben, sharing von dokumenten und über plugins was-nicht-alles. aber jede dieser funktionen wird einzeln schon von anderen diensten gut gelöst. wenn man chatten will, dann gibt es skype und IM und campfire; wenn man kollaborativ schreiben will, dann gibt es google docs und etherpad und writeboard; wenn man abstimmen will, dann gibt es dutzende vote widgets; etc. alle tools sind einzeln schärfer, mitunter weil sie ihre grenze haben und darin bleiben.

  • soziale grenzen

eine der doofsten entscheidungen dürfte gewesen sein, dass sie wave einerseits nach dem gestreuten einladungsprinzip (first come, first serve) vergeben haben, dass sie andererseits (wie bei google buzz) das adressbuch laut gmail als primäre kontaktliste herangezogen haben. ersteres hat dazu geführt, dass leute im erstkontakt kaum kollegen vorfanden, mit denen sie wave projektbezogen auschecken konnten (retrospektiv offensichtlich: sie hätten es für blöcke von google apps usern freischalten sollen); zweiteres hat mitunter zu einem völlig unnötigen rauschen geführt (andere konnten einen ja nach freiem gutdünken zu beliebigen waves hinzufügen; das war besonders nervend, weil:)

  • leben/tod grenze

bis vor wenigen wochen gab es in wave keine möglichkeit, eine wave zu löschen oder auch nur endgültig aus der sichtbarkeit zu verbannen. diese unfähigkeit zu sterben war vl. die massivste überschreitung (auch wenn es vom prinzip ja nicht uninteressant ist, total recall, night of the living dead, usw.). die vorstellung etwas in den mülleimer zu ziehen, und dann ist es aus dem blick, und den mülleimer zu entleeren, und dann ist es endgültig weg, ist für viele dinge essentiell. schneller chat und alles andere, was man nicht mit dem gefühl ‘das mach ist jetzt für die ewigkeit’ angeht, und eigentlich auch das nicht, weil man einmal drüber geschlafen die sache wieder ganz anders sieht, etc., wird dadurch fast ausgeschlossen.

  • zeit grenze

neben der ausdehnung der zeitlichkeit in die ewigkeit hat wave gleichzeitig die zeitlichkeit zur gleichzeitigkeit komprimiert. aber abgesehen vom wow effekt (oh, da ändert einer, der in australien sitzt, das dokument oben und ich sehe es und ändere es unten und dann machen wir kleine klickspielchen und übersetzt wird es auch noch) stellt sich das schnell als extrem irritierendes feature heraus, weil man sich nicht auf das schreiben konzentriert, sondern auf das, was der andere treibt.

  • intelligibilitäts grenze

waves laufen schnell aus dem limit. waves mit 20+ chatfreudigen members sind in kürzester zeit völlig sinnlos. das portionieren von informationseinheiten ist natürlich bei vielen formen so eine sache, aber der mix aus den verschiedenen datentypen macht aus waves schnell einen eintopf.

das tragikomische an wave ist ja, dass sie ein problem des verhaltens (zusammenarbeit im webzeitalter ist primär ein verhaltensproblem) mit technischen mitteln lösen wollten, dass sie dabei aber ein tool erschaffen haben, dass nur bei extremster verhaltensdisziplin in einem idealtypischen umfeld wirklich nützlich ist. das komiktragische ist, dass wave jetzt in die organe zerlegt und als lebender toter in anderen projekten weiterleben wird.

trotz der genannten fehler war wave ja wirklich ein faszinierendes stück software, das neben den grundeigenschaften ja noch eine ganze welt an technischem subtext angedacht hat (robots rejoice, über die wave bots wären ja die erstaunlichsten integrationen mit anderen systemen möglich gewesen). wave war also, wenn man so will, die erste wirklich postmoderne webanwendung. es gab nichts zu verstehen, keinen modernistisch/traumatischen kern, der durch interpretation eingeordnet und zugänglich gemacht werden konnte (beispiel wieder twitter). wave war ein sich selbst zitierendes, bladerunnereskes patchwork aus funktionszitaten (chat, editor, messaging, …) und technikzitaten (federation protokol over xmpp, open social, robot http protocol, …). im grunde wurden wir in wave zu deckards, die in dieser welt dann herumtappen mussten, und wenn wir genauer hinschauten feststellen konnten, dass sich das gesamte gewebe des realen unter unseren füssen auflöst und als artifizielles konstrukt entpuppt.

(abt. postmodernism, the cultural logic of late googlicism)

☍ 07.08.2010 # googlewave instantanalysis postmodernism
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