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die romantische komödie

Die Zeitgenossen der Gesellschaft Pt. 15: Die Stummfilm-Diva

Die Stummfilm-Diva (m/w) ist ein gelegentlich gesehener Zeitgenosse, der sich dadurch auszeichnet, dass er vor 30, 40 Jahren mal ein Star war, er sein Selbstbild seit damals aber nicht mehr angepasst hat und nun nur noch in einer Scheinwelt lebt, in der er immer noch der Star ist, während die Welt weitergezogen ist und etwa Farbe und Ton bekommen hat.

Der Punkt, um den es mir dabei geht, ist das Divergieren von Selbstwahrnehmung und Fremdwahrnehmung, wobei die Selbstwahrnehmung oft durchaus verständlicherweise gleich bleibt, sich die Fremdwahrnehmung aber mitunter dramatisch verändert hat, weil sich die eigene Funktion für die Anderen dramatisch verändert hat, das jedoch nicht zur Kenntnis genommen wird. Und es geht dabei nicht um eine natürliche Evolution oder um unvermeidbare Kollateralschäden von einem ‘Fortschritt’, sondern um das Ignorieren von – oft natürlich technokulturell bedingten – Veränderungen und Verschiebungen der eigenen Position, was mittelfristig halt zu einer zunehmenden ‘Verrücktheit’ des eigenen Blickwinkels führt.

Wie das oft ausgeht wissen wir aus Sunset Blvd.

(die paradigmatischen stummfilm-diven sind derzeit natürlich die zeitungen und zeitschriften. immer, wenn man vom nächsten bezahlmodell hört, das sich irgendeine publikation ausgedacht hat, muss man sich ja kurz am kopf kratzen und sich fragen, wie sie sich auch nur ansatzweise denken können, dass das eine gute idee ist, oder wie sie sich auch nur irgendwie vorstellen können, dass das eigentlich funktionieren müsste. aber wenn man sie als stummfilm-diva konzipiert, wird das auf einmal schlüssig:

vor dem internet war des selbstbild der verlage noch halbwegs mit dem fremdbild für ihre leser im einklang. nach dem internet haben die verlage von sich selbst noch immer das gleiche selbstbild, aber das fremdbild für die leser hat sich fundamental verändert, ebenso wie alle jobs, die sie für ihre leser noch erfüllen. dieser umstand wird von der verlagen aber mit doch bemerkenswerter sturheit übersehen und/oder verdrängt.

wenn man so will: vor dem internet waren zeitungen für die zeitungsmacher und für die leser ein menü mit suppe, wienerschnitzel, salat und einem seidel bier. was anderes gab es im anderen gasthaus des dorfes auch nicht, und es war günstig und hat wirklich gut geschmeckt – es war also für alle ein guter deal. nach dem internet sind zeitungen für die zeitungsmacher selbst noch immer das gasthaus mit diesem köstlichen menü, für das leute aus der ganzen welt angereist kommen – aber für die leser haben sich die einzelnen gerichte der speisekarte schon vor jahren aufgelöst und mit allen anderen gerichten aller anderen gasthäuser zu einem einzigen, überall und immer verfügbaren, megalomanischen all-you-can-eat buffet mit köstlichkeiten aus der ganzen welt rekombiniert. der leser sieht die gasthäuser der zeitungen überhaupt nicht mehr; wenn der gurkensalat wirklich gut war, dann schlägt man vl. mit besonderer freude zu, wenn man im buffet darüber stolpert, und wenn das wienerschnitzel wirklich besonders zart und knusprig war, dann merkt man sich vl. sogar den ort, aber wenn nicht auch kein problem. wie gesagt: selbstbild der verlage und fremdbild für die leser stimmen nicht mehr überein, weil sich für die leser die funktion, der wert und die relativen vorteile der zeitungen komplett verändert haben.

es ist nicht gänzlich unverständlich, dass die verlage den umstand, dass sich die umwelt verändert hat und sie für alle anderen plötzlich eine andere funktion erfüllen, einfach verdrängen. ihre internen prozesse zur erstellung von texten haben sich ja vglw. wenig verändert, der aufwand zur erstellung von ‘aufwändig recherchierten’ artikeln wurde nicht viel kleiner, die grossartigkeit des geschmacks oder der urteilskraft des redakteurs nicht schwächer, es gibt noch immer viel vom gleichen zu tun. der gedanke, dass sie für die leser nicht mehr der informationsnabel der welt sind, kommt ihnen ganz einfach gar nicht, und deshalb haben sie ihren eigenen anspruch überhaupt nie reflektiert oder überdacht und also auch nicht angepasst.

das problem ist halt, dass in der realität das selbstbild mit dem fremdbild konfrontiert wird, und dass ein zu stark divergierendes selbstbild zu aktivitäten führt, die einfach nicht mehr angenommen werden oder anschlussfähig sind. sich im all-you-can-eat buffet hinzustellen und für den gurkensalat eine zusätzliche wöchentliche pauschale zu verlangen und die wienerschnitzel à la carte zu verkaufen wird selten funktionieren, auch wenn das vl. ungerecht ist, weil sie sich beim kochen wirlich sehr bemüht haben und sie wirklich gut schmecken. es nützt halt nichts.

solange sie aber nicht den blickwinkel wechseln und ihre funktion einmal von aussen wahrnehmen, werden sie zu keinen massnahmen kommen, die tatsächlich funktionieren könnten. sie brauchen also einen realitätscheck, sie müssten wirklich einmal in einen spiegel schauen und das ist natürlich nicht leicht und wird mit jedem jahr schwerer)

((nur ein hint: auch vor dem internet haben die leser nie für den eigentlichen ‘journalismus’ bezahlt und das wussten die zeitungen auch selbst, es war aber gwm. notwendig so zu tun als ob es so wäre; dafür nach dem internet geld zu verlangen ist also völlig aussichtslos. aber sie waren doch aus anderen gründen ein wirklich attraktives produkt und haben eine ganze reihe an anderen jobs erfüllt; ihre überlegungen für die gegenwart und zukunft sollten also eher in die richtung gehen, welche davon noch immer funktionieren könnten und welche neuen sie vl. erfüllen könnten. ein guter startpunkt ist dabei übrigens immer cwf+rtb. das problem dabei ist, dass das eine gewisse ehrlichkeit, bescheidenheit und realismus erfordert, keine eigenschaften mit denen sie sich als stummfilm-diva bisher ausgezeichnet haben. aber wieder: es nützt halt nichts))

(abt. supermarket studies)

☍ 19.10.2014 # print
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